WissensTransferCamp 2024/wtc24-2-6-baumer
Die Beratungsgesellschaft Baumer stellt ihre ersten Erfahrungen mit Expert Debriefing im Kontext von Unternehmensnachfolgen vor. Als Newbies in diesem Bereich haben sie erkannt, dass Wissenstransfer ein kritischer Erfolgsfaktor bei M&A-Transaktionen ist und entwickeln innovative Ansätze, um implizites Wissen von Schlüsselpersonen zu sichern. Trotz besonderer Herausforderungen wie Zeitdruck, Vertraulichkeit und fehlenden Nachfolgern zeigen zwei Praxisbeispiele sowohl die Potentiale als auch die Grenzen des Expert Debriefings in der Unternehmensnachfolge.
- Session Titel: Expert Debriefing im Rahmen der Unternehmensnachfolge
- Session Owner: Gerlinde und Jean-Claude Baumer
Besonderheiten des Expert Debriefings bei Unternehmensnachfolgen
Expert Debriefing im Kontext von Unternehmensnachfolgen unterscheidet sich grundlegend von klassischen Wissenstransferprozessen in etablierten Organisationen. Die Beratungsgesellschaft Baumer, die seit 2015 kleine und mittelständische Unternehmen bei M&A-Transaktionen begleitet, hat als “Newbies” im Expert Debriefing besondere Rahmenbedingungen identifiziert:
Zeitdruck als kritischer Faktor
- Unternehmensverkäufe sind selten langfristig geplant
- Der Umsetzungszeitpunkt steht meist unter enormem Zeitdruck
- Statt der üblichen 10-monatigen Vorlaufzeit stehen oft nur wenige Wochen oder Monate zur Verfügung
- “Bei uns ist immer Zeitnot, weil so ein Unternehmensverkauf ist nicht mal eben lang geplant”
Vertraulichkeit und Anonymität
Der gesamte Verkaufsprozess läuft hochvertraulich ab, was besondere Herausforderungen schafft:
- Personenbezogene Daten dürfen aufgrund der DSGVO nicht veröffentlicht werden
- Mitarbeiter sind häufig nicht in den Verkaufsprozess involviert
- Expert Debriefing muss oft ohne Wissen der Belegschaft durchgeführt werden
- Käufer erhalten nur anonymisierte Personallisten bis kurz vor Vertragsunterzeichnung
Asymmetrische Ausgangslage
- Oft existiert noch kein konkreter Nachfolger zum Zeitpunkt des Expert Debriefings
- Der Wissenstransfer erfolgt “asynchron” - Interview ohne bekannten Wissensnehmer
- Dokumentation muss so erstellt werden, dass zukünftige Nachfolger sie verstehen können
Wissen als Werttreiber in M&A-Transaktionen
Die Beratungsgesellschaft Baumer hat erkannt, dass Wissen ein entscheidender Werttreiber bei Unternehmenstransaktionen ist, auch wenn dies in traditionellen Bewertungsverfahren nicht explizit berücksichtigt wird.
Theoretischer Wert vs. praktische Realität
- “Wissen ist ein Asset. Wissen ist ein Werttreiber in diesem Prozess”
- Wenn Wissen verloren geht, verliert das Unternehmen an Wert und Attraktivität
- Traditionelle Unternehmensbewertungen berücksichtigen Wissen nur implizit über betriebswirtschaftliche Kennzahlen
- “In keinster Unternehmensbewertung wird das Wissen der Person selber bewertet”
Risikominimierung für Käufer
Käufer sind sich der Bedeutung von Personalwissen bewusst und schützen sich entsprechend:
- 10-20% des Kaufpreises werden oft zurückgehalten oder auf Sonderkonten gelegt
- Grund: Risiko des Wissensverlusts durch Mitarbeiterabgang nach der Transaktion
- “Es ist quasi ein Malus, den ich auf meine Transaktion bekomme”
Strategischer Ansatz der Beratung
Um diesem Risiko entgegenzuwirken, bietet Baumer Expert Debriefing als präventive Maßnahme an:
- Proaktives Expert Debriefing mit Schlüsselpersonen vor der Transaktion
- Verkaufsargument: “Dein Wissen ist Gold wert. Es ist ganz wichtig, dass wir das erfassen”
- Post-Merger-Integration: Expert Debriefing nach Abschluss für schnellere Einarbeitung neuer Führungskräfte
Praxisfall 1: Wissenstransfer vom technischen Leiter vor Ruhestand
Der erste Praxisfall zeigt exemplarisch die Herausforderungen und Erfolge des Expert Debriefings in einem kleinen Industrieunternehmen.
Ausgangssituation
Das Unternehmen hatte sich durch Outsourcing-Strategien auf ein kleines Kernteam reduziert:
- Spezialisiert auf Abgaslösungen für Großindustrieanlagen
- Technischer Leiter mit 30 Jahren Erfahrung geht in Altersteilzeit
- “Das Know-how für ihn war absoluter Werttreiber, absolut kritisch bezüglich der Werthaltigkeit des Unternehmens”
- Historisches Wissen teilweise nur in handschriftlichen Plänen aus 120 Jahren verfügbar
Rollenkonstellation und Herausforderungen
- Moderatoren-Tandem von Baumer
- Junge Gesellschafterin/Geschäftsführerin in Doppelrolle als Vorgesetzte und temporäre Wissensnehmerin
- Technischer Leiter zunächst skeptisch: “Diese Welt dieses Wissenstransfers war für ihn ganz weit weg”
- Zeitliche Verfügbarkeit begrenzt durch Altersteilzeit und private Aktivitäten
Durchführung und Methodik
Tool-Anpassung als Erfolgsfaktor
- Ursprünglich geplant: Mindmap-basierte Wissenslandkarte
- Realität: “Wir haben gemerkt, das Tool an sich war eine Sperre”
- Lösung: Wechsel zu Excel als vertrautes Medium
- “Dann nehmen wir die Logik der Wissenslandkarte und übertragen die auf Excel”
Strukturierter Interviewprozess
- Zwei persönliche Treffen zum Aufbau der Wissenslandkarte
- Nachgelagerte eigenständige Dokumentation durch den Experten
- Online-Begleitung und Feedback-Gespräche
Überraschende Erkenntnisse
Das Expert Debriefing förderte kritisches, bisher unbekanntes Wissen zutage:
Das passwortgeschützte Berechnungstool
- Excel-basiertes Berechnungstool für komplexe Prozessgasreinigungsanlagen
- Nur der technische Leiter kannte das Passwort
- Geschäftsführerin wusste nicht einmal von der Existenz des Tools
- Tool war vom Experten mitentwickelt worden und enthielt enormes Know-how
- “Ohne dem hätte man wahrscheinlich eine Chance vertan”
Motivationswandel des Experten
Ein bemerkenswerter Aspekt war die Entwicklung der Expertenmotivation:
- Anfängliche Skepsis: “Der nächste ist nur gut, wenn er die Erfahrung macht, die ich gemacht habe”
- Während des Skiurlaubs erstellte der Experte eigenständig eine neue Version der Wissenslandkarte
- “Er hat Spaß daran gefunden, sich selber quasi zu verwirklichen”
- Wertschätzung durch Reflexion des eigenen Wissens: “Er war überrascht, was er alles wusste”
Praxisfall 2: Notfall-Wissenstransfer bei Geschäftsführerwechsel
Der zweite Fall demonstriert Expert Debriefing unter extremen Zeitbedingungen und besonderen Vertraulichkeitsanforderungen.
Krisensituation
- Geschäftsführer kündigt überraschend während laufender Verkaufsverhandlungen
- Demotivation als Kündigungsgrund
- Unternehmen lief wie ein “Satellit” - Mutterunternehmen hatte keine Kenntnis der tatsächlichen Tätigkeiten
- Wissen war nirgends dokumentiert
Extreme Rahmenbedingungen
- Höchste Vertraulichkeit erforderlich
- Nur 2-4 Wochen Zeit für den gesamten Wissenstransfer
- Drei Tagessessions von morgens bis abends
- Parallele operative Geschäftsabwicklung durch den scheidenden Geschäftsführer
Besondere Konstellation
Eine ungewöhnliche Situation entstand durch die Anwesenheit des designierten Nachfolgers:
- Zukünftiger Nachfolger war anwesend, aber seine Rolle war nicht bekannt
- “Der zukünftige Nachfolger von ihm war mit im Raum drin, aber war nicht bekannt, dass er Nachfolger ist”
- Diese Konstellation erwies sich als funktional, obwohl sie normalerweise nicht empfohlen wird
Technische Umsetzung
Tool-Herausforderungen
- Einsatz von “The Brain” für dreidimensionale Mindmaps mit Verlinkungsmöglichkeiten
- Problem: Server in den USA, Compliance-Bedenken des Unternehmens
- Lösung: Übertragung der Struktur in Microsoft OneNote
- Zukünftiger Geschäftsführer hatte jedoch keine OneNote-Kenntnisse
Intensive Interviewtechnik
- Strukturierte Interviews über sechs Stunden täglich
- Fokus auf kritische Themen: Gewährleistung, Kundenansprüche, anstehende Zertifizierungen
- “Bomben, die hochkamen” - unerwartete kritische Sachverhalte
- Gleichzeitige Dokumentation in Mindmap und OneNote
Motivationsherausforderungen
- “Die Motivation des Experten war kontextbedingt sehr gering”
- Zeitdruck verhinderte ausführliche Planungsphase
- Fokus auf reine Wissensextraktion und -dokumentation
Lessons Learned und kritische Erfolgsfaktoren
Aus beiden Praxisfällen lassen sich wichtige Erkenntnisse für Expert Debriefing im M&A-Kontext ableiten.
Tool-Flexibilität als Erfolgsfaktor
Die Erfahrungen zeigen, dass die Auswahl der richtigen Tools entscheidend ist:
- Vertraute Tools reduzieren Widerstände erheblich
- “Die Auswahl der Tools, das war tatsächlich etwas… die größte Schwierigkeit, die größte Herausforderung”
- Pragmatische Lösungen (Excel statt Mindmap) können effektiver sein als theoretisch optimale Tools
- Compliance-Anforderungen schränken Tool-Auswahl erheblich ein
Bedeutung der Prozessbegleitung
Die Rolle der Moderatoren erwies sich als kritisch:
- “Die Rolle der Prozessbegleiterin ist enorm wichtig”
- Audience-Funktion: “Wo ist mein Publikum? Ich will das hören. Ich finde das spannend”
- Fachfremde Perspektive hilft beim Hinterfragen und Verständnis
- “Immer fachfremd, damit wir diese Fragen stellen können”
Motivationsmanagement
Erfolgreiche Motivationssteigerung auch bei skeptischen Experten:
- Wertschätzung durch Reflexion des eigenen Wissens
- “Allein durch die Tatsache, dass er gemerkt hat, was passiert mit ihm dort”
- Überraschung über den Umfang des eigenen Wissens als Motivator
- Wichtigkeit eines echten Publikums statt reiner Dokumentationsaufgabe
Kritische Grenzen der Dokumentation
- “Wenn du aufschreibst, was zum Henker du den ganzen Tag machst… super, aber ich verstehe es nicht”
- Reine Dokumentation ohne Interaktion hat minimalen Wert
- “Die Qualität von dem, was gesagt wird, was verstanden werden kann am Ende… ist so minimiert, dass der Wert der Dokumentation die Zeit nicht wert ist”
- Notwendigkeit einer “Dolmetscherin” für Verständnisfragen
Audience-Prinzip
- “Immer einen Menschen daneben setzen, und sei es egal wer”
- Auch fachfremde Personen können als Audience fungieren
- Zwischenfragen und Verständnischecks sind essentiell
- “Du bist die Instanz, die noch mal fragt: Moment, was hast du hier mit gemeint?”
Fazit und Ausblick
Expert Debriefing im Kontext von Unternehmensnachfolgen stellt besondere Anforderungen an Methodik und Durchführung. Die Erfahrungen von Baumer zeigen, dass trotz schwieriger Rahmenbedingungen - Zeitdruck, Vertraulichkeit, fehlende Nachfolger - erfolgreiche Wissenstransfers möglich sind.
Zentrale Erfolgsfaktoren
- Flexible Tool-Auswahl basierend auf Nutzerkomfort
- Intensive persönliche Begleitung durch erfahrene Moderatoren
- Schaffung einer wertschätzenden Atmosphäre für den Wissensträger
- Pragmatische Anpassung an gegebene Constraints
- Fokus auf kritisches, unternehmenswertiges Wissen
Offene Herausforderungen
Die Digitalisierung des Expert Debriefing-Prozesses bleibt eine zentrale Herausforderung. Während theoretisch optimale Tools existieren, scheitert deren Einsatz oft an praktischen Hürden wie Compliance-Anforderungen oder mangelnder Nutzerakzeptanz.
Handlungsempfehlungen
Für die Praxis des Expert Debriefings im M&A-Kontext ergeben sich folgende Empfehlungen:
- Frühzeitige Integration: Expert Debriefing sollte bereits in der Vorbereitungsphase von Transaktionen mitgedacht werden
- Audience sicherstellen: Niemals reine Dokumentationsaufgaben ohne Gesprächspartner vergeben
- Tool-Pragmatismus: Vertraute Tools bevorzugen, auch wenn sie nicht optimal erscheinen
- Wertschätzung kommunizieren: Den Wert des Expertenwissens explizit hervorheben
- Zeitpuffer einplanen: Auch bei Zeitdruck Raum für Motivationsaufbau schaffen
Die Erfahrungen zeigen, dass Expert Debriefing ein wertvolles Instrument zur Risikominimierung bei Unternehmenstransaktionen darstellt, wenn es an die besonderen Gegebenheiten des M&A-Kontexts angepasst wird.