Gkc25/Lernen - Verlernen - Wissen - Vergessen

Aus Copedia
Version vom 23. November 2025, 16:00 Uhr von Simon.dueckert (Diskussion | Beiträge)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

Diese Session behandelt die Herausforderungen und Chancen im Umgang mit Wissen in Organisationen, insbesondere die Frage, wie totes oder ungenutztes Wissen lebendig gemacht werden kann. Der Sprecher lädt die Teilnehmenden ein, verschiedene Aspekte des Wissensmanagements zu erkunden: von der Notwendigkeit des Vergessens über die Entdeckung von Nicht-Wissen bis hin zur Verantwortung, die mit neuem Wissen einhergeht. Dabei werden klassische Methoden wie Lessons Learned und Expert Debriefing kritisch hinterfragt und alternative Ansätze vorgestellt. Die Session betont die Bedeutung von Neugierde, Zufall, persönlichem Austausch und dem bewussten Verlassen der Komfortzone als Schlüssel für lebendiges Wissen.

Hauptthemen der Präsentation:

  1. Wissen vergessen, loslassen und die Effizienz von Wissen
  2. Nicht-Wissen entdecken und der Umgang mit Unbekanntem
  3. Die Aktivierung und Lebendigkeit von Wissen
  4. Verantwortung und Anwendung von neuem Wissen
  5. Methodenkritik: Lessons Learned und Expert Debriefing
  6. Der Wert von Zufall, Serendipität und informellem Austausch
  7. Herausforderungen: Überforderung, Informationsflut und Veränderungsresistenz

Wissen vergessen, loslassen und die Effizienz von Wissen

Der Umgang mit Wissen beginnt paradoxerweise oft mit der Notwendigkeit des Vergessens. Unser Gehirn verfügt über begrenzte Kapazitäten, und es ist schlichtweg unmöglich, alles zu behalten, was wir im Laufe unseres Berufslebens gelernt haben. Das Vergessen ist keine Schwäche, sondern eine notwendige Ressourcenschonung des Gehirns.

Der Sprecher beschreibt seine persönliche Situation nach 36 Jahren in einem Unternehmen: Die schiere Menge an angesammeltem Wissen kann überwältigend sein. Es geht darum, einen Weg zu finden, dieses Wissen nicht im Kopf behalten zu müssen, sondern es so zu externalisieren, dass man bei Bedarf darauf zugreifen kann. Das Konzept des geparkten Wissens wird eingeführt – Wissen, das nicht permanent im Arbeitsgedächtnis präsent sein muss, aber abrufbar bleibt.

Ein zentrales Problem ist die Annahme, dass alles Wissen bewahrt werden muss. Dies führt zu einer ständigen Überforderung und verhindert, dass Raum für Neues entsteht. Stattdessen sollte bewusst entschieden werden, welches Wissen wirklich relevant ist und welches getrost vergessen werden darf. Diese Entscheidung erfordert Filter-Kompetenz: die Fähigkeit zu unterscheiden, was wichtig ist und was nicht.

Die Herausforderung liegt darin, dass unser Gehirn von Natur aus darauf programmiert ist, bei Bekanntem zu bleiben. Es ist faul im besten Sinne des Wortes – es sucht nach dem energieeffizientesten Weg. Veränderungen und neues Lernen erfordern Energie, weshalb das Gehirn dazu neigt, Widerstand zu leisten. Das erklärt, warum Menschen oft an alten Methoden und Werkzeugen festhalten, selbst wenn neue Möglichkeiten verfügbar sind.

Ein praktisches Beispiel ist der Umstieg von E-Mail auf Chat-Messenger. Viele Menschen haben ihr E-Mail-Verhalten einfach übertragen: für jeden Ordner eine Chat-Gruppe erstellt, weiterhin alles auf CC gesetzt. Dadurch wurde die potenzielle Effizienz des neuen Tools nicht genutzt. Dies ist ein klassisches Beispiel für das Motorsägen-auf-dem-Schiff-Prinzip: alte Verhaltensweisen werden in neue Kontexte übertragen, wo sie nicht mehr funktionieren.

Die Lösung liegt nicht nur in Tool-Schulungen, sondern in der Vermittlung von Kontext und dem Verstehen des Warum. Es geht um Methodenwissen: nicht nur wie ein Tool funktioniert, sondern wann und warum man es einsetzt. Nur durch das tiefere Verständnis können Menschen ihre Verhaltensweisen wirklich anpassen.

Nicht-Wissen entdecken und der Umgang mit Unbekanntem

Die Frage, wie wir herausfinden können, was wir nicht wissen, ist zentral für Wissensmanagement. Der Philosoph Taleb unterscheidet zwischen bekanntem Nicht-Wissen (ich weiß, dass ich etwas nicht weiß) und unbekanntem Nicht-Wissen (ich weiß nicht, dass ich es nicht weiß). Die zweite Kategorie ist besonders herausfordernd.

Traditionelle Ansätze funktionieren hier oft nicht. Wenn ich gezielt nach etwas suche, bewege ich mich nur in bekannten Bahnen. Ich frage nach dem, was ich schon kenne oder zumindest erahne. Um wirklich Neues zu entdecken, braucht es andere Mechanismen – insbesondere den Zufall.

Der Sprecher betont die Bedeutung von Serendipität, dem glücklichen Zufall, bei dem man etwas Wertvolles findet, ohne danach gesucht zu haben. Dies ist keine Beliebigkeit, sondern ein bewusster Prozess: dem Zufall eine Chance zu geben. Praktische Beispiele dafür sind das Durchblättern von Magazinen oder Zeitschriften – nicht digital, sondern physisch. Dabei stößt man auf Themen, die man nie aktiv gesucht hätte, die aber dennoch relevant sein können.

In Organisationen fehlen oft die Gelegenheiten für solche zufälligen Entdeckungen. Die digitale Suche ist zielgerichtet und effizient, aber sie schließt das Unerwartete aus. Informelle Gespräche auf dem Flur, beim Kaffee oder bei einem Geburtstagsfrühstück bieten hingegen Raum für unerwartete Erkenntnisse. Diese altmodischen Wege haben einen besonderen Wert: Sie ermöglichen es, etwas zu erfahren, von dem man nicht wusste, dass man es wissen sollte.

Die Herausforderung besteht darin, bewusst Strukturen zu schaffen, die dem Zufall Raum geben. Das kann bedeuten, bewusst die eigene Bubble zu verlassen, mit Menschen zu sprechen, die in anderen Bereichen arbeiten, oder neue Räume zu betreten. Ein konkreter Vorschlag ist, einen anderen Eingang ins Büro zu nehmen – solche kleinen Veränderungen können neue Perspektiven eröffnen.

Ein wichtiger Aspekt ist auch das Recht auf Nicht-Wissen. Nicht alles muss gewusst werden, und nicht jedes entdeckte Nicht-Wissen muss sofort gefüllt werden. Die Medizinethik kennt dieses Prinzip bereits. Es geht darum, bewusst zu entscheiden, welches Wissen relevant ist und welches nicht.

Das Entdecken von Nicht-Wissen erfordert auch eine bestimmte Haltung: Neugierde und Offenheit. Die intrinsische Motivation, etwas Neues lernen zu wollen, ist dabei zentral. Diese Motivation kann jedoch durch Überforderung, Zeitdruck oder fehlende Ressourcen blockiert werden. Organisationen müssen daher Rahmenbedingungen schaffen, die Neugier fördern statt behindern.

Die Aktivierung und Lebendigkeit von Wissen

Wissen, das nur in Datenbanken, Dokumenten oder Köpfen einzelner Personen liegt, ist im besten Fall schlafend – manche würden sagen tot, auch wenn dieser Begriff problematisch ist. Lebendiges Wissen entsteht erst durch Anwendung, Dialog und Transfer.

Die zentrale Frage ist: Wie wird Wissen lebendig? Die Antwort liegt nicht in der Archivierung, sondern in der Aktivierung. Wissen wird lebendig, wenn Menschen damit arbeiten, es diskutieren, hinterfragen, auf neue Situationen übertragen und weiterentwickeln. Es ist ein dynamischer Prozess, kein statischer Zustand.

Ein Beispiel aus der Praxis: Eine Organisation hatte ein Wiki eingerichtet mit dem Anspruch, hier ist das gesammelte Wissen unserer Organisation. Doch die Resonanz war gering. Niemand ging freiwillig hinein, um zu schauen, ob es zu einem Thema etwas gibt. Das Problem lag nicht am Tool, sondern daran, dass das Wissen dort nicht lebendig wurde. Es fehlte die Verbindung zum Arbeitsalltag, zu konkreten Problemen und Bedürfnissen.

Die Lösung liegt darin, Wissen dort verfügbar zu machen, wo Menschen es tatsächlich brauchen – im Tagesgeschäft, im Flow der Arbeit. Statt zentraler Datenbanken braucht es Wissen in Kontexten: in Projektblogs, in Diskussionsforen, in direkten Gesprächen. Das Expert Debriefing am Ende einer Karriere ist wertvoll, aber es reicht nicht. Viel wichtiger ist der kontinuierliche Austausch während der gesamten Zeit.

Communities of Practice werden als besonders wirksame Methode hervorgehoben. Sie schaffen Räume, in denen Menschen mit ähnlichen Interessen oder Aufgaben sich regelmäßig austauschen können. Dabei wird Wissen nicht nur weitergegeben, sondern gemeinsam entwickelt und an neue Situationen angepasst. Wichtig ist, dass diese Communities nicht von HR gesteuert werden, sondern von den Mitgliedern selbst getragen werden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Rolle von Geschichten und Narrativen. Wissen wird am lebendigsten, wenn es in Storys verpackt ist. Die persönliche Geschichte hinter einem Projekt, die Herausforderungen, die Emotionen – all das macht Wissen greifbar und erinnerbar. Ein nüchterner Eintrag in einer Lessons-Learned-Datenbank kann diese Lebendigkeit nicht ersetzen.

Die Aktivierung von Wissen erfordert auch die richtigen Formate: Barcamps, Workshops, informelle Treffen, bei denen Menschen aus dem Alltagsgeschäft auftauchen können, reflektieren und sammeln. Es geht darum, Räume zu schaffen, in denen Austausch nicht nur möglich, sondern attraktiv ist.

Besonders wichtig ist die Erkenntnis, dass lebendiges Wissen nicht hierarchisch von oben nach unten funktioniert. Die besten Ergebnisse entstehen, wenn Wissen entgegen der Hierarchie fließt: wenn jüngere Mitarbeitende ältere interviewen, wenn Peers voneinander lernen, wenn Expertise geteilt wird, unabhängig von formalen Positionen.

Verantwortung und Anwendung von neuem Wissen

Mit neuem Wissen kommt Verantwortung. Diese Verbindung wird oft übersehen, ist aber zentral. Wenn ich beispielsweise lerne, unter welchen Bedingungen meine Kleidung produziert wird – Kinderarbeit, Umweltzerstörung, unfaire Löhne – dann kann ich nicht mehr so tun, als wüsste ich es nicht. Das Wissen schafft Handlungsspielräume, aber auch Verpflichtungen.

Der Sprecher gibt ein anschauliches Beispiel: Vor 40 Jahren ging man ins Geschäft und kaufte eine Hose, die gefiel und passte. Heute stellen sich ganz andere Fragen: Brauche ich überhaupt eine neue Jeans? Ist sie aus Recycling-Material? Wo wurde sie produziert? Was passiert mit den Ressourcen? Diese Fragen entstehen erst durch Wissen – und mit ihnen die Verantwortung, Entscheidungen zu treffen.

Diese Verantwortung kann überfordernd sein. Sie erfordert, Informationen zu verarbeiten, abzuwägen und Entscheidungen zu treffen, die über persönliche Bequemlichkeit hinausgehen. Nicht jeder ist bereit oder in der Lage, diese Verantwortung zu übernehmen. Das Lieferkettengesetz ist ein Beispiel dafür, wie schwer es ist, Wissen in Verantwortung und dann in Handeln zu übersetzen.

Im organisationalen Kontext bedeutet dies: Wenn Mitarbeitende lernen, dass es effizientere Arbeitsmethoden gibt, dass bestimmte Prozesse veraltet sind oder dass neue Tools bessere Ergebnisse liefern könnten, dann stellt sich die Frage: Was machen sie mit diesem Wissen? Ignorieren sie es? Versuchen sie, Veränderungen anzustoßen? Oder fühlen sie sich machtlos?

Die Herausforderung liegt darin, dass Wissen allein nicht ausreicht. Es braucht auch die Kompetenz und die Rahmenbedingungen, um es anzuwenden. Beispiel agiles Arbeiten: Viele Menschen haben gehört, dass es Sprints gibt und denken, wenn sie jeden Montag zehn Minuten Meeting machen, arbeiten sie agil. Das ist ein Missverständnis – sie haben einen kleinen Teil verstanden, aber nicht das Gesamtbild, nicht die Prinzipien dahinter.

Das gleiche gilt für neue Tools. Nur weil jemand weiß, wie man ein Tool bedient, heißt das nicht, dass er es effektiv nutzt. Es fehlt oft das Verständnis für den Kontext, für das Warum. Und ohne dieses Verständnis bleibt die Verantwortung, das neue Wissen wirklich zu nutzen, unerfüllt.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die individuelle Verantwortung in Organisationen. Jemand, der in einem bestimmten Bereich arbeitet, muss sich fragen: Passt diese Entscheidung nur für mich? Für meine Abteilung? Oder auch für andere Bereiche? Diese Perspektiverweiterung ist Teil der Verantwortung, die mit zunehmendem Wissen einhergeht.

Die Session betont, dass diese Verantwortung nicht aufgezwungen werden kann. Sie muss aus der persönlichen Relevanz erwachsen. Wenn Menschen verstehen, warum etwas für sie wichtig ist, wenn sie den Nutzen sehen und die Konsequenzen ihres Handelns nachvollziehen können, dann sind sie eher bereit, Verantwortung zu übernehmen.

Methodenkritik: Lessons Learned und Expert Debriefing

Lessons Learned gehört zu den etablierten Methoden im Wissensmanagement, wird aber in dieser Session kritisch hinterfragt. Die Grundidee ist gut: Am Ende eines Projekts wird reflektiert, was funktioniert hat und was nicht, damit zukünftige Projekte davon profitieren. In der Praxis zeigen sich jedoch erhebliche Schwächen.

Das Hauptproblem ist der Zeitpunkt. Wenn Lessons Learned erst am Ende eines Projekts stattfindet, ist viel bereits vergessen. Die emotionale Verbindung zu den Ereignissen ist schwächer, Details gehen verloren. Wichtiger noch: Das gewonnene Wissen liegt dann in einer Datenbank und wartet darauf, dass jemand in einem zukünftigen Projekt danach sucht. Diese Suche passiert selten, weil Menschen im Projektdruck keine Zeit haben oder nicht wissen, dass relevantes Wissen dort liegt.

Der Sprecher schlägt eine Alternative vor: Statt eines großen Lessons-Learned-Workshops am Ende sollten Projekte kontinuierlich dokumentiert werden, etwa durch einen Blog. Wenn während des Projekts wichtige Erkenntnisse gemacht werden, werden sie sofort festgehalten – mit Kontext, mit Emotionen, mit der Story dahinter. Dieses Wissen ist dann sofort verfügbar für andere, die vielleicht gerade in einer ähnlichen Situation sind.

Ein weiteres Problem ist die Form. Oft werden aus den persönlichen, emotionalen Geschichten nüchterne Formulareinträge. Die Lebendigkeit geht verloren. Noch schlimmer: Wenn diese Einträge dann in Chatbots oder automatisierte Systeme übersetzt werden, bleibt von der ursprünglichen Wertschätzung und dem Kontext nichts mehr übrig.

Ähnlich verhält es sich mit dem Expert Debriefing, der Abschöpfung von Wissen bei ausscheidenden Mitarbeitenden. Die Intention ist gut: Bevor jemand die Organisation verlässt, soll sein Wissen gesichert werden. Doch auch hier zeigen sich Probleme. Wenn dieser Prozess zur Pflicht wird, zur Verpflichtung, dann verliert er an Wert. Die Frage ist: Geht es wirklich darum, das Wissen zu sichern? Oder geht es darum, der Person noch einmal Wertschätzung zu zeigen, ihre Geschichte zu hören?

Der Sprecher schlägt vor, Expert Debriefings anders zu gestalten: nicht als Abfrage durch HR, sondern als Gespräch zwischen Generationen. Neue Mitarbeitende interviewen ausscheidende – nicht als formaler Prozess, sondern als wertschätzender Dialog. Dabei geht es weniger um technisches Wissen (das oft ohnehin veraltet ist) als um Erfahrungen, um Kontexte, um die Storys hinter den Entscheidungen.

Ein innovativer Ansatz ist, innerhalb der Teams Menschen mittleren Alters zu identifizieren, die die Kapazität und das Interesse haben, solche Interviews zu führen. Sie sind nah genug am Geschehen, um relevante Fragen zu stellen, aber haben genug Distanz, um strukturiert vorzugehen. Wichtig ist, dass sie nicht nur technisch geschult werden, sondern auch die Bedeutung von Geschichten und Emotionen verstehen.

Die grundsätzliche Kritik an beiden Methoden ist: Sie behandeln Wissen als etwas Statisches, das am Ende eines Prozesses gesammelt und archiviert wird. Stattdessen sollte Wissen als etwas Dynamisches verstanden werden, das kontinuierlich im Fluss ist, geteilt, diskutiert und weiterentwickelt wird.

Der Wert von Zufall, Serendipität und informellem Austausch

Der bewusste Einsatz von Zufall als Methode mag paradox klingen, ist aber ein zentrales Element für Innovation und Wissensentwicklung. Serendipität – der glückliche Zufall – lässt sich nicht erzwingen, aber man kann ihm Raum geben.

Im Arbeitsalltag sind die meisten Interaktionen zielgerichtet. Man ruft jemanden an, weil man ein bestimmtes Anliegen hat. Man sucht online nach einer konkreten Information. Man geht zu einem Meeting mit einer festen Agenda. All das ist effizient, lässt aber keinen Raum für Unerwartetes.

Die wirklich wertvollen Erkenntnisse entstehen oft in den Zwischenräumen: beim Gespräch auf dem Flur, beim gemeinsamen Kaffee, beim zufälligen Treffen in der Kantine. Diese informellen Momente sind nicht planbar, aber sie sind extrem wichtig. Sie ermöglichen es, Perspektiven kennenzulernen, die man nie aktiv gesucht hätte, Probleme zu entdecken, von denen man nicht wusste, und Lösungen zu finden, die außerhalb der eigenen Expertise liegen.

Der Sprecher berichtet von persönlichen Erfahrungen, sowohl in Projekten als auch im privaten Leben, wo bewusst mit Zufall gearbeitet wurde. Das kann bedeuten, durch ein Magazin zu blättern, ohne nach etwas Bestimmtem zu suchen. Es kann bedeuten, einen anderen Weg zur Arbeit zu nehmen. Es kann bedeuten, an einem Geburtstagsfrühstück teilzunehmen, auch wenn man eigentlich keine Zeit hat.

Diese Praktiken mögen altmodisch erscheinen in einer Zeit, in der alles digitalisiert und optimiert wird. Aber genau darin liegt ihr Wert. Die digitale Suche ist präzise, aber sie schließt das Unerwartete aus. Ein physisches Magazin zeigt Artikel, die man nie gesucht hätte – und genau dort können die interessantesten Entdeckungen liegen.

In Organisationen bedeutet dies, bewusst Räume für Zufall zu schaffen. Communities of Practice sind ein solcher Raum – nicht streng thematisch begrenzt, sondern offen für verschiedene Perspektiven. Barcamps sind ein weiteres Beispiel, wo die Agenda nicht im Voraus festgelegt wird, sondern sich aus den Interessen der Teilnehmenden ergibt.

Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Zufall und Beliebigkeit. Es geht nicht darum, planlos zu agieren, sondern darum, strukturiert Raum für das Unerwartete zu schaffen. Es gibt Forschung zu Serendipität, die zeigt, dass bestimmte Bedingungen zufällige Entdeckungen wahrscheinlicher machen: Vielfalt, Offenheit, Austausch über Grenzen hinweg.

Die Herausforderung besteht darin, dass solche Räume in effizienzgetriebenen Organisationen oft als Zeitverschwendung betrachtet werden. Warum sollte man Zeit in ungeplante Gespräche investieren, wenn man doch konkrete Aufgaben zu erledigen hat? Die Antwort ist: Weil genau dort die Innovation entsteht, die langfristig den Unterschied macht.

Herausforderungen: Überforderung, Informationsflut und Veränderungsresistenz

Eine der größten Herausforderungen im modernen Wissensmanagement ist die schiere Menge an Informationen. Es fühlt sich an, als würde ständig mehr werden – mehr Kanäle, mehr Tools, mehr Inhalte. Diese Wahrnehmung ist nicht ganz richtig: Tatsächlich ist die absolute Menge an relevanten Informationen möglicherweise gleich geblieben, aber die Verfügbarkeit ist explodiert.

Früher gab es das Dorfgespräch und die Zeitung. Heute kann man potenziell ein Gespräch an einer Ampel in Singapur mitbekommen. Die technischen Möglichkeiten suggerieren, dass alles relevant sein könnte – und das überfordert. Das Gehirn hat Filter entwickelt, um zu entscheiden, was wichtig ist und was nicht. Aber diese Filter können überfordert werden, wenn ständig neue Anforderungen hinzukommen.

Die Überforderung zeigt sich in verschiedenen Formen. Manche Menschen reagieren mit Rückzug – sie schalten ab, ignorieren neue Entwicklungen, machen weiter wie bisher. Andere reagieren mit Aktionismus – sie versuchen, alles mitzunehmen, jedes neue Tool zu lernen, jeden Trend mitzugehen. Beides ist problematisch.

Ein wichtiger Aspekt ist das Zeitmanagement. Viele Menschen haben schlicht nicht die Kapazität, sich mit Neuem auseinanderzusetzen. Sie sind so im Tagesgeschäft gefangen, dass kein Raum bleibt für Reflexion, für Lernen, für Austausch. Dies ist keine individuelle Schwäche, sondern ein strukturelles Problem. Organisationen müssen bewusst Räume schaffen, in denen Menschen aus dem Alltagsgeschäft auftauchen können.

Die Veränderungsresistenz hat oft mit der Anstrengung zu tun, die Neues erfordert. Unser Gehirn ist darauf programmiert, Energie zu sparen. Alles Neue erfordert zunächst mehr Energie als das Gewohnte. Das erklärt, warum Menschen an alten Methoden festhalten, selbst wenn sie wissen, dass es bessere gibt. Der Spruch das haben wir schon immer so gemacht ist Ausdruck dieser Tendenz.

Ein hilfreiches Konzept ist das der Komfortzone. Diese wächst durchs Verlassen – aber nur, wenn die Erfahrung positiv ist. Wenn jemand gezwungen wird, etwas Neues zu machen, ohne zu verstehen warum, ohne Unterstützung, dann wird die Komfortzone nicht größer, sondern die Person zieht sich zurück.

Die Lösung liegt darin, Veränderung als normal zu etablieren. Wenn ständiger Wandel zur Normalität wird, wenn regelmäßig kleine Veränderungen stattfinden, dann wird das Neue nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen. Der Sprecher empfiehlt, sich bewusst und ohne äußeren Druck mit neuen Tools, Methoden oder Formaten auseinanderzusetzen – einfach um die Fähigkeit zu trainieren, offen für Neues zu sein.

Ein konkreter Vorschlag: Probiere etwas Neues einen Monat lang aus, ohne es sofort zu bewerten. Erst nach diesem Monat fange an zu beurteilen, ob es funktioniert oder nicht. Dies verhindert die vorschnelle Ablehnung, die oft auf dem ersten, ungewohnten Eindruck basiert.

Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass Menschen weder dumm, faul noch bösartig sind. Wenn eine Methode nicht funktioniert, liegt es selten an den Menschen, sondern an den Rahmenbedingungen. Führungskräfte müssen sich fragen: Habe ich wirklich die Bedingungen geschaffen, unter denen das Neue funktionieren kann? Oder erwarte ich, dass Menschen einfach anders arbeiten, während alles andere gleich bleibt?

Die Balance zwischen Bewahren und Erneuern ist individuell unterschiedlich und hängt von der persönlichen Verfassung ab. Wenn jemand stabil ist, in sich ruht, dann ist auch die Fähigkeit größer, mit Veränderung umzugehen. Wenn jemand gestresst ist, überlastet, dann wirkt jede zusätzliche Anforderung überfordernd.

Fazit und Ausblick

Die Session macht deutlich, dass Wissensmanagement weit mehr ist als das Sammeln und Archivieren von Informationen. Es geht um die Lebendigkeit von Wissen, um den kontinuierlichen Austausch, um das Schaffen von Räumen für Reflexion und Begegnung. Klassische Methoden wie Lessons Learned und Expert Debriefing haben ihren Wert, müssen aber weitergedacht werden, um wirklich wirksam zu sein.

Ein zentrales Ergebnis ist, dass der Begriff totes Wissen problematisch ist. Wissen ist nicht tot, sondern schlafend, stillstehend oder unentdeckt. Es wird lebendig durch Menschen, die es nutzen, diskutieren, auf neue Situationen übertragen und weiterentwickeln. Die Aufgabe von Wissensmanagement ist es, diese Lebendigkeit zu fördern.

Besonders wichtig ist die Erkenntnis, dass Wissen immer in einem Kontext entsteht. Wenn sich der Kontext ändert, muss auch das Wissen neu bewertet werden. Das erfordert die Bereitschaft, Gelerntes loszulassen, offen für Neues zu sein und dem Zufall eine Chance zu geben. Serendipität ist kein Luxus, sondern eine notwendige Methode, um Unbekanntes zu entdecken.

Die Rolle von Communities of Practice wird besonders hervorgehoben. Sie schaffen Räume, in denen Menschen sich austauschen können, ohne dass es sofort um ein konkretes Projekt oder eine Aufgabe geht. Dort kann Wissen wachsen, sich entwickeln und lebendig werden. Wichtig ist, dass diese Communities von den Mitgliedern selbst getragen werden, nicht von oben verordnet.

Mit neuem Wissen kommt Verantwortung. Diese Verantwortung kann nicht aufgezwungen werden, sondern muss aus der persönlichen Relevanz erwachsen. Organisationen müssen Rahmenbedingungen schaffen, die es ermöglichen, diese Verantwortung auch wahrzunehmen – durch Ressourcen, durch Unterstützung, durch die Kultur des Experimentierens.

Die Herausforderung der Überforderung ist real und muss ernst genommen werden. Es hilft nicht, immer mehr Informationen, Tools und Methoden anzubieten. Stattdessen braucht es Filter-Kompetenz, klare Prinzipien und die Fähigkeit, bewusst zu entscheiden, was relevant ist und was nicht. Das Recht auf Nicht-Wissen ist dabei genauso wichtig wie das Streben nach Wissen.

Offene Fragen:

  • Wie können Organisationen Räume für Serendipität und informellen Austausch systematisch schaffen, ohne sie zu sehr zu formalisieren?
  • Welche Rolle spielt die individuelle Resilienz im Umgang mit Informationsflut und wie kann sie gefördert werden?
  • Wie lässt sich die Balance zwischen dem Bewahren von Erfahrungswissen und der Offenheit für Neues organisational gestalten?
  • Welche Metriken oder Indikatoren können helfen zu erkennen, ob Wissen wirklich lebendig ist oder nur archiviert?

Handlungsempfehlungen:

  • Versuche bewusst, dem Zufall Raum zu geben: Blättere durch Magazine, nimm einen anderen Weg, verlasse deine Bubble regelmäßig
  • Probiere neue Tools, Methoden oder Formate einen Monat lang aus, bevor du sie bewertest – gib dem Neuen eine faire Chance
  • Etabliere oder beteilige dich an Communities of Practice, um lebendigen Austausch zu ermöglichen
  • Dokumentiere Wissen kontinuierlich während Projekten, nicht erst am Ende – nutze Blogs oder andere Formate, die Kontext und Emotion bewahren
  • Gestalte Expert Debriefings als generationenübergreifende Dialoge, nicht als Wissensabfrage
  • Schaffe bewusst Räume, in denen Menschen aus dem Tagesgeschäft auftauchen und reflektieren können
  • Entwickle Filter-Kompetenz und Prinzipien, um bewusst entscheiden zu können, was relevant ist
  • Erkenne das Recht auf Nicht-Wissen an und zwinge dich nicht, alles aufnehmen zu müssen
  • Verbinde Organisationen und Communities, die sich mit ähnlichen Fragen beschäftigen (wie Corporate Learning Community und Gesellschaft für Wissensmanagement)
  • Übe dich darin, Veränderung als Normalität zu akzeptieren, durch regelmäßige kleine Experimente