WissensTransferCamp 2024/wtc24-1-3-dueckert
Das Expert Debriefing hat sich von einem einfachen Wissenstransferprozess zu einem umfassenden System entwickelt, das heute über 950 ausgebildete Moderatoren umfasst und durch KI-Integration neue Dimensionen erreicht. Der Vortrag zeigt die Evolution von den frühen Fallbeispielen bei Audi und Schaeffler bis hin zu modernen digitalen Lösungen und gibt einen Ausblick auf zukünftige Entwicklungen mit Künstlicher Intelligenz.
- Session-Titel: Wissenstransfer mit Expert Debriefing von 1999-heute - Erfahrungen und zukünftige Entwicklungen
- Session-Owner: Simon Dückert
Hauptthemen des Beitrags:
- Entstehungsgeschichte und frühe Fallbeispiele
- Meilensteine in der Entwicklung des Expert Debriefings
- Digitalisierung und Pandemie-bedingte Veränderungen
- KI-Integration und technologische Weiterentwicklung
- Zukunftsperspektiven und strategische Ausrichtung
Entstehungsgeschichte und frühe Fallbeispiele
Die Wurzeln des Expert Debriefings reichen zurück zu einem Projekt am Lehrstuhl für KI der Universität Erlangen, wo ursprünglich der Audi Wissensmarktplatz auf Basis von Live Link entwickelt wurde. Live Link war eine rudimentäre Version eines Wikis, dokumentorientiert, in die Wiki-Editoren eingebaut wurden, um Experten zu ermöglichen, ihr Wissen selbst zu pflegen.
Der ursprüngliche Referenzprozess basierte auf ausführlichen Interviews mit sehr langer Einarbeitung in die Themen und Interview-Methodik. Diese Interviews landeten in den sogenannten Evita-Systemen, die später durch das Audi-Wiki abgelöst wurden.
Ein wichtiger Wendepunkt war die Umbenennung von “Expert Debriefing” zu “Wissensstafette” - der englische Name war problematisch geworden, weshalb die Metapher des Staffelübergabs vom Wissensgebenden zum Wissensnehmenden gewählt wurde. Dieser Ansatz führte zur Auszeichnung als “Wissensmanager des Jahres” und verschaffte dem Konzept große Sichtbarkeit.
Frühe erfolgreiche Implementierungen fanden bei verschiedenen Großunternehmen statt:
- ThyssenKrupp
- Fraport
- Lufthansa
- Weitere Industrieunternehmen
Meilensteine in der Entwicklung des Expert Debriefings
Der Schaeffler Case als Durchbruch
Der erste richtig große Case war die Einführung bei Schaeffler, ausgehend von der typischen demografischen Pyramide und der Aufnahme des Expert Debriefings ins Portfolio des Wissensmanagements. Hier wurden zwei Referenz-Expert-Debriefings mit einer sogenannten “Tour in Management” durchgeführt, wobei erkannt wurde, dass das Problem viel größer war als nur ein Punkt-zu-Punkt-Transfer.
Zentrale Innovationen bei Schaeffler:
- Entwicklung des Schaeffler-Wikis
- Schaeffler Wissenslernkarte von einem langjährigen Experten
- Transformation der individuellen Wissenslernkarte zur organisationalen Wissenslernkarte
- Aufbau des Wikis für die Dokumentation
- Schaeffler Open Knowledge Space als Plattform für Wissensaustausch
Systematisierung und Skalierung
Aus den frühen Projekten bis 2005/2006 ergab sich der Bedarf nach Systematisierung. Viele Organisationen wollten die Prozesse intern einsetzen, aber es gab nur Foliensätze, keine fertigen Schulungen.
Die Antwort waren:
- Expert-Debriefing-Moderatorinnen-Ausbildungen (zunächst für Inhouse, später zweimal jährlich öffentlich im Mai und November)
- Entwicklung eines Expert-Debriefing-Leitfadens
- Gründung des Business Transfer Camp Meetups 2008
Bis heute sind 958 Moderatorinnen durch die Ausbildung gelaufen. Kunden mit großen demografischen Herausforderungen haben intern bis zu 30 Moderatorinnen, andere arbeiten mit zwei bis drei und decken Spitzen extern ab.
Digitalisierung und Pandemie-bedingte Veränderungen
Der LernOS-Leitfaden
Der Expert-Debriefing-Leitfaden wurde in die LernOS-Leitfaden-Reihe überführt, um die Nachnutzung zu verbessern. Die Leitfäden stehen unter Creative Commons Lizenz - vergleichbar mit GPL oder Apache License für Software-Content. Dies ermöglicht:
- Verwendung im kommerziellen Kontext
- Anpassungen und Modifikationen
- Interne Umbenennung von Prozessen und Prozessschritten
- Download der Word-Version für kundenspezifische Anpassungen
Die Leitfäden sind Web-First und Mobile-First konzipiert, durchsuchbar und automatisch in verschiedenen Formaten verfügbar (Web, Word, E-Book, PDF). Geplant ist eine automatische Übersetzung über die DeepL API in verschiedene Sprachen.
Pandemie als Katalysator
Die Pandemie veränderte das Expert Debriefing grundlegend. Früher waren alle Expert Debriefings mit viel Reiseaufwand verbunden, und viele konnten sich nicht vorstellen, dass Online-Expert-Debriefings funktionieren könnten. Der erste Termin erfordert normalerweise einen “Circle of Trust”, um offen über Themen sprechen zu können.
Erstaunlicherweise gab es fast keine Reibungsverluste. Remote Expert Debriefings, die vorher hauptsächlich mit Kunden mit Auslandsniederlassungen gemacht wurden, wurden zum Standard.
Office 365/Microsoft 365 Integration
Die Pandemie war stark kombiniert mit der Einführung von Office 365/Microsoft 365 bei vielen Kunden. Der Standardweg wurde:
- Circle of Trust in Microsoft Teams
- Dateien im Allgemeinkanal als Referenzdokument-Bibliothek
- OneNote als Ersatz für das persönliche Wiki
- Planner für den Maßnahmenplan
- Teams-Chat ersetzt E-Mail-Verkehr komplett
OneNote bietet gegenüber früheren Wiki-Lösungen (wie TiddlyWiki) entscheidende Vorteile:
- Bessere Suche
- Multimedia-Dateien (Podcasts, Videos, Screencasts) durchsuchbar
- Mobile Nutzung (Experten können über die OneNote-App Sprachnachrichten hinzufügen)
KI-Integration und technologische Weiterentwicklung
Der KI-Boom und seine Auswirkungen
Seit dem “KI-Wahnsinn” haben Kunden überall KI-Projekte gestartet, zunächst oft im “Wilden Westen”-Stil, dann mit Governance-Überlegungen:
- Welche Tools sollen verwendet werden?
- Welche Daten dürfen in ChatGPT?
- Soll Microsoft Co-Pilot gekauft werden?
Diese Fragen beschäftigten die meisten Kunden im Herbst/Ende des Jahres, mit Entscheidungen bis Q1 des Folgejahres.
Proof of Concept mit GPT Plus
Aktuell läuft ein Proof of Concept auf Basis von GPT Plus mit dem PDF-Dokument des Leitfadens als lokale Knowledge Base. Durch RAG (Retrieval Augmented Generation) wird ein einfaches Sprachmodell mit dem Expert-Debriefing-Leitfaden kombiniert, um Expertenfragen zu beantworten - der Inhalt kommt dabei aus dem Dokument, nicht aus dem Sprachmodell.
Herausforderungen bei der Implementierung:
- Generierung von Ausgabeformaten (MM-Files für Mindmaps)
- Chatbot-Führung durch Expert-Debriefing-Fragen
- Aufbau der Wissenslangkarte
- Export in JSON oder XML für grafische Darstellung
- Import in Planner für Maßnahmenpläne
Datenschutz und lokale Lösungen
Für die meisten Kunden sind externe Cloud-Systeme problematisch. Das Kopieren von Expert-Debriefing-Inhalten in ChatGPT würde zu sechsstelligen Vertragsstrafen führen. Daher ist ChatGPT nur für Proof of Concepts geeignet.
Die Lösung liegt in:
- Azure OpenAI für Microsoft-Umgebungen
- Lokalen Sprachmodellen, wo Daten nicht abfließen
Zukunftsperspektiven und strategische Ausrichtung
Expert Debriefing als Notlösung überwinden
Das Expert Debriefing wird als “Notnagel-Prozess” gesehen - ein Verfahren für Dinge, die eigentlich schon früher hätten getan werden können. Das Ziel sollte sein, nicht erst ein oder zwei Jahre vor dem Ausscheiden zu handeln.
Personal Knowledge Management im Onboarding
Ein neuer Ansatz fokussiert auf Personal Knowledge Management (PKM) im Onboarding-Prozess:
- Task Management für Wissensarbeiter
- Digitale Notizbücher für Wissensarbeiter
- Integration in den Onboarding-Prozess neuer Mitarbeiter
- Saubere Lessons Learned, die später im Expert Debriefing verwendet werden können
Demografischer Wandel als Treiber
Mit dem demografischen Wandel und 10 Millionen Babyboomern, die in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen, wird das Thema Wissenstransfer immer dringlicher. Obwohl das Problem seit den 1970er Jahren bekannt ist, beschäftigen sich viele Organisationen erst kurz vor dem Ausscheiden ihrer Experten damit - ähnlich wie Studierende ihre Abschlussarbeit oft erst zwei Wochen vor Abgabe schreiben.
Fazit und Ausblick
Das Expert Debriefing hat sich von einem einfachen Interview-Prozess zu einem umfassenden Wissenstransfer-System entwickelt, das heute über 950 ausgebildete Moderatoren umfasst. Die Pandemie wirkte als Katalysator für die Digitalisierung und machte Remote-Expert-Debriefings zum Standard.
Zentrale Erfolgsfaktoren:
- Systematische Ausbildung von Moderatoren
- Open-Source-Ansatz mit Creative Commons Lizenz
- Integration in bestehende IT-Landschaften (Microsoft 365)
- Kontinuierliche Weiterentwicklung basierend auf Praxiserfahrungen
Offene Fragen und Herausforderungen:
- Wie kann KI sinnvoll in den Expert-Debriefing-Prozess integriert werden, ohne Datenschutzprobleme zu verursachen?
- Wie lassen sich automatisierte Ausgabeformate (Mindmaps, Maßnahmenpläne) generieren?
- Wie kann Personal Knowledge Management bereits im Onboarding etabliert werden?
Handlungsempfehlungen:
- Organisationen sollten nicht warten, bis Experten kurz vor dem Ausscheiden stehen, sondern Wissenstransfer proaktiv angehen
- Die Integration von Personal Knowledge Management in Onboarding-Prozesse sollte vorangetrieben werden
- Bei KI-Integration ist auf lokale Lösungen oder sichere Cloud-Umgebungen zu setzen
- Die Flagge für Wiki-Technologien sollte hochgehalten werden, auch wenn sie unter Office 365 “vergraben” wurden
- Der demografische Wandel erfordert systematische Herangehensweisen an den Wissenstransfer
Die Zukunft des Expert Debriefings liegt in der intelligenten Kombination von bewährten Prozessen mit neuen Technologien, wobei der Fokus auf präventiven statt reaktiven Ansätzen liegen sollte.