Gkc25/Panel Praxiserfahrungen - 100 Jahre Wissensmanagement: Unterschied zwischen den Versionen

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Simon.dueckert (Diskussion | Beiträge)
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Version vom 23. November 2025, 15:48 Uhr

Diese Session bietet einen einzigartigen Einblick in mehrere Jahrzehnte praktischer Wissensmanagement-Erfahrung bei großen deutschen Industrieunternehmen. Lothar Meyer von Bosch und Benjamin Nakustin von Thyssenkrupp Steel teilen ihre Erlebnisse mit der Entwicklung, Implementierung und Verstetigung von Wissensmanagement-Initiativen. Die Diskussion zeigt, dass erfolgreiche Wissensmanagement-Ansätze sich kontinuierlich anpassen müssen, von technologiegetriebenen Lösungen zu kulturellen und führungsorientierten Strategien entwickeln und dass die Integration in bestehende Geschäftsprozesse wichtiger ist als isolierte Messung. Besonders deutlich wird, dass Bottom-up-Initiativen wie Communities of Practice oft nachhaltiger sind als Top-down-Programme, während der Nutzen von Wissensmanagement weniger in ROI-Kennzahlen als in verbesserter Vernetzung, Standardisierung und organisationaler Resilienz liegt.

Hauptthemen der Präsentation:

  1. Entwicklung und Wendepunkte des Wissensmanagements über 25-30 Jahre
  2. Die Rolle von Social Collaboration und virtuellen Plattformen
  3. Communities of Practice und deren nachhaltiger Erfolg
  4. Technologiewandel und Systemmigrationen
  5. Messung und Nachweis des Nutzens von Wissensmanagement
  6. Integration in Geschäftsprozesse und Führungsaufgaben
  7. Kulturelle Aspekte: Transparenz und Offenheit

Entwicklung und Wendepunkte des Wissensmanagements über 25-30 Jahre

Die Entwicklung des Wissensmanagements bei den vertretenen Unternehmen zeigt verschiedene Phasen und entscheidende Wendepunkte. Bei Bosch lässt sich Wissensmanagement seit 100 Jahren nachweisen, auch wenn es anfangs nicht so bezeichnet wurde. Die letzten 20-30 Jahre zeigen jedoch deutliche Entwicklungssprünge.

Lothar Meyer beschreibt einen wesentlichen Wendepunkt bei Bosch um 2013-2014 mit der Einführung von Social Collaboration. Dies war kein Bottom-up-Prozess mehr, sondern wurde von oben vorangetrieben. Es wurde massiv in Kultur, Training und Befähigung investiert. Die neue Plattform ermöglichte es jedem, darauf zuzugreifen, mit jedem über Grenzen hinweg zu kommunizieren und sich selbst darzustellen. Man konnte sich mit seiner Expertise taggen, ein Profil mit Hintergrundinformationen anlegen und Communities gründen. Dies war ein entscheidender Unterschied zu früheren Bottom-up-Initiativen wie der Bosch Experts Organization, die 30 Jahre alt wird und immer mit Ressourcenkampf verbunden war.

Bei Thyssenkrupp Steel verlief die Entwicklung etwas anders. Benjamin Nakustin identifiziert die Urform des Wissensmanagements in der Weiterbildung mit internen Trainern, ergänzt durch betriebliches Vorschlagswesen als Innovationsmanagement. Ein wichtiger Wendepunkt kam mit der Kombination von demografiebedingten Austritten und einem hohen Altersdurchschnitt der Belegschaft. Methoden wie Wissenstransfer und Wissensstafette gewannen an Bedeutung. Dies sensibilisierte Führungskräfte für das Thema, führte allerdings zunächst oft zu dem Versuch, möglichst viel zu verschriftlichen und in Systemen abzuspeichern – was häufig zu Datenfriedhöfen führte. Dennoch war dies eine Initialzündung, da Mitarbeiter Erfahrungen mit dem Thema machten.

Ein weiterer großer Wandel bei Thyssenkrupp kam, als weitere demografiebedingte Austritte mit einer Reduzierung von HR-Kapazitäten zusammentrafen. Die Anzahl der Wissenstransfer-Begleiter wurde von zehn auf zwei oder anderthalb reduziert, was eine starke Automatisierung der Methode, mehr Selbststeuerung und die Befähigung von Multiplikatoren erforderlich machte.

Der letzte große Schritt wurde durch Social Collaboration vorbereitet – im Wesentlichen die Einführung von Office 365 – zündete aber erst mit Corona. Als ein Großteil der Belegschaft ins Homeoffice wechselte, merkten viele, dass virtuelle Zusammenarbeit tatsächlich funktioniert. Dies beförderte Community Management und Community Building und schuf eine Brücke zwischen dem, was vorher nur face-to-face ablief, und dem technisch Möglichen. In Chats wurde plötzlich vieles verschriftlicht, Dokumente wurden geteilt – nicht als Zusatzaufwand, sondern integriert in die ohnehin ablaufenden Prozesse.

Die Rolle von Social Collaboration und virtuellen Plattformen

Die Einführung von Social Collaboration-Plattformen wird von beiden Unternehmen als wesentlicher Katalysator für die Weiterentwicklung des Wissensmanagements beschrieben. Diese Technologien veränderten nicht nur die Werkzeuge, sondern auch die Kultur des Wissensteilens grundlegend.

Bei Bosch hatte Social Collaboration einen enormen Einfluss auf die Kultur des Wissensteilens. Plötzlich war es nicht mehr eine Nische, sondern Alltag. Die Plattform ermöglichte eine neue Form der Transparenz. Mitarbeiter konnten gefunden werden, sich mit ihrer Expertise darstellen und Communities gründen. Man konnte ein Forum aufmachen und fragen, wer die gleichen Probleme hat. Dies war ein qualitativer Sprung gegenüber früheren Ansätzen.

Lothar Meyer betont, dass Bottom-up-Initiativen zwar weiterhin der effektivste Weg sind und auch nach 30 Jahren noch funktionieren, aber Social Collaboration gab diesen Initiativen eine neue Reichweite und Sichtbarkeit. Die Plattform demokratisierte den Zugang zu Wissen und Expertise, der vorher oft nur über persönliche Netzwerke möglich war.

Bei Thyssenkrupp Steel entwickelte sich die Nutzung differenzierter. Die Einführung von Office 365 allein zündete noch nicht. Erst Corona brachte den Durchbruch, als virtuelle Zusammenarbeit notwendig wurde. Die Kultur entwickelte sich von unten nach oben. Es etablierte sich in Teams, aber auch in größeren, teamübergreifenden Communities. Dies geschah nicht auf Befehl von oben, sondern organisch.

Wichtig ist die Feststellung, dass diese neuen Plattformen nicht automatisch zu mehr Transparenz auf Unternehmensebene führten. Zunächst wurden sie vor allem teamintern genutzt. Die radikale Transparenz, die mit der Enterprise 2.0-Bewegung verbunden war, stellte sich nicht automatisch ein. Die Kultur der Offenheit musste sich entwickeln.

Ein unerwarteter Nebeneffekt von Corona und der virtuellen Zusammenarbeit war der veränderte Umgang mit Terminen. Ohne Wegezeiten konnten Termine dichter getaktet werden – was sich leider auch nach Corona als die dunkle Seite dieser Entwicklung verstetigt hat. Die Meetings wurden zahlreicher, was neue Herausforderungen für die Work-Life-Balance schuf.

Communities of Practice und deren nachhaltiger Erfolg

Communities of Practice erweisen sich als besonders nachhaltige Form des Wissensmanagements, insbesondere wenn sie als Bottom-up-Initiativen entstehen. Die Erfahrungen beider Unternehmen zeigen deutliche Unterschiede zwischen organisch gewachsenen und top-down initiierten Communities.

Bei Bosch gibt es Arbeitskreise seit etwa 140 Jahren, wobei das Neue Ende der 1990er Jahre war, diese transparent zu machen. Die Initialzündung kam von drei Werken mit Fertigungsproblemen, die sagten: Lasst uns reden. Sie bezogen Fertigungsentwicklung und Normenstelle ein, erstellten Yellow Pages und gründeten Arbeitskreise, die Richtlinien erarbeiteten. Das Entscheidende war, diese auf eine Plattform zu stellen, sodass jeder mit Interesse darauf zugreifen konnte. Vorher waren Arbeitskreise geschlossene Systeme – ohne Netzwerk kam man nicht hinein.

Diese Bottom-up-Initiativen sind nach Lothar Meyers Einschätzung der effektivste Weg, der immer noch funktioniert. Es gibt Arbeitskreise aus der Gründungszeit vor 30 Jahren, die heute noch funktionieren, Richtlinien herausgeben und verbindliche Regeln für die Firma aufstellen. Die intrinsische Motivation – ich habe was davon, das bringt mich weiter – ist der entscheidende Erfolgsfaktor.

Bosch versuchte auch einen strategischen Ansatz, bei dem durch Umfragen bei Entwicklungsleitern fünf nicht abgedeckte Themen identifiziert und Communities top-down initiiert wurden. Der Aufwand war deutlich größer, weil die intrinsische Motivation fehlte. Mitarbeiter wurden delegiert und es gab echte Widerstände gegen diese aufgezwungenen Arbeitskreise. Ob diese heute noch existieren, ist fraglich – im Gegensatz zu den organisch gewachsenen Communities.

Bei Thyssenkrupp Steel gab es Communities of Practice vor Corona nicht so ausgeprägt als top-down Initiative. Es gab vereinzelte Initiativen von Einzelnen, wie die Wissensmanagement Community im Konzern, die sich ab und zu traf. Solche Initiativen standen und fielen mit einzelnen Personen, die sie organisierten und vorantrieben. Erst mit Corona und der erzwungenen virtuellen Zusammenarbeit etablierten sich Communities breiter und nachhaltiger.

Der Output erfolgreicher Communities bei Bosch ist vielfältig: Standardisierung von Maschinen, Lieferanten und Materialien; eigene Bosch-Normen und Einkaufsspezifikationen; Kolloquien, die einmal im Jahr oder alle zwei Jahre stattfinden; eigene Schriftenreihen zu spezifischen Themen, die als Nachschlagewerke dienen. Diese konkreten Ergebnisse machen den Wert der Communities sichtbar und nachvollziehbar.

Technologiewandel und Systemmigrationen

Der kontinuierliche Wandel von IT-Systemen und Plattformen ist eine permanente Herausforderung für das Wissensmanagement. Die Frage, wie Communities und Wissensbestände diese Infrastrukturwechsel überleben, ist entscheidend für die Nachhaltigkeit von Wissensmanagement-Initiativen.

Bei Bosch müssen sich langlebige Communities natürlich anpassen. Die zentrale Frage ist, wo die Datenhaltung erfolgt und ob es jemanden gibt, der die Daten bei Bedarf migriert. Bosch hatte anfangs eine eigene Plattform mit Eigenprogrammierung für die Datenhaltung. Mit Social Collaboration wurde entschieden, dass es keinen Sinn macht, zwei ähnliche Plattformen zu betreiben. Daraufhin wurden die Communities zentral unterstützt, von der alten auf die neue Plattform umzuziehen.

Diese Unterstützung umfasste das Enablement der Community-Mitglieder, das Anlegen der Communities auf der neuen Plattform und Hilfe beim Community Management. Es wurde gezeigt, wie die neuen Instrumente für die eigene Arbeit genutzt werden können, insbesondere für virtuelle Zusammenarbeit. In den nächsten zwei bis drei Jahren steht bei Bosch ein weiterer Plattformwechsel an. Die Herausforderung wird sein, nicht nur Dokumente zu migrieren (was relativ einfach ist), sondern auch den in Social Collaboration geschaffenen Content wie Wikis und Einträge zu konservieren oder umzuheben.

Lothar Meyer weist darauf hin, dass nach 30 Jahren nicht mehr alles relevant ist. Man muss durchgehen und entscheiden, was abgegeben, gezippt und archiviert werden kann. Für solche Migrationen braucht man guten Support, den Bosch offenbar hat.

Bei Thyssenkrupp Steel sind natürlich auch Systeme auf der Strecke geblieben, was aber nicht als Problem gesehen wird. Die Taktik der letzten Jahre war, ohne großes Aufräumen in Archive zu migrieren, mit denen man im Zweifelsfall noch recherchieren kann. Benjamin Nakustin betont, dass vielleicht zum Glück die reine Technikorientierung auf der Strecke geblieben ist. Der Fokus hat sich verschoben zu einer Führungsgestaltung, die wissensorientiert ist.

Simon Dückert ergänzt aus Siemens-Perspektive, dass die Thematik von Infrastrukturwechseln und Migrationen so alt ist wie das Wissensmanagement selbst. Selten hört man auf Konferenzen, dass etwas abgeschaltet wird – meist wird über Neueinführungen berichtet. Aber über lange Zeiträume verschwinden natürlich Infrastrukturen. Die Frage, wie Communities diese Wechsel überleben, ist zentral für die Verstetigung.

Lothar Meyer bringt es auf den Punkt: Man muss sich darauf einstellen, dass nichts von Dauer ist. Der alte Bosch sagte: Wer aufgehört hat, besser zu werden, der hat aufgehört, gut zu sein. Man kann sich nirgends ausruhen und muss sich ständig überlegen, wie man es besser oder anders machen kann, weil die Umstände es erzwingen – sei es durch Tool-Wechsel, Abschaltungen wegen zu hoher Kosten oder weil Anbieter keinen Support mehr leisten. Man muss akzeptieren, dass man immer weiter rennen muss und es nie ein Ende geben wird.

Messung und Nachweis des Nutzens von Wissensmanagement

Die Frage nach dem messbaren Nutzen von Wissensmanagement ist so alt wie das Wissensmanagement selbst und bleibt eine der größten Herausforderungen. Die Session zeigt verschiedene Ansätze und auch die Grenzen der Nutzenquantifizierung auf.

Bosch versuchte vor zehn Jahren, den Mehrwert eines Entwicklungsarbeitskreises zu erfassen. Genutzt wurde die NAUS-Methode (Nutzenorientierte Wirtschaftlichkeitsschätzung) der TU Aachen, eine Workshop-Methode, die mit zwei Gruppen verschiedener Stakeholder durchgeführt wurde. Dabei wird über eine Matrix versucht, den Wert der Arbeit zu monetarisieren. Interessanterweise kam bei beiden Gruppen dasselbe Ergebnis heraus: ein Verhältnis von 1 zu 9. Jeder investierte Euro zahlte sich neunfach aus. Die Methode ist jedoch zu aufwendig für flächendeckenden oder regelmäßigen Einsatz.

Der Output von Communities ist oft nicht direkt auf der eigenen Kostenstelle sichtbar, hat aber bereichsübergreifend Wirksamkeit. Wenn durch Arbeitskreise Richtlinien verbindlich werden, die in Regelwerke Eingang finden und dadurch Ausschuss vermieden wird, entsteht definitiv Wirksamkeit. Standardisierung – von Maschinen, Lieferanten oder Materialien – und die Festlegung von Vorzugslieferanten oder Best Practices im Materialaustausch schaffen messbaren Mehrwert.

Ein Beispiel aus Roche Diagnostics zeigt einen pragmatischen Ansatz: Bei der häufigen Akquisition neuer Firmen entstehen verschiedene Kompetenzen, Werkzeuge und Analysegeräte weltweit. Eine Community, die sich um bestimmte Laboranalysen kümmert und diese zentral an einem Standort managt, ermöglicht es anderen Standorten, diese Kapazitäten abzugreifen. Dadurch entfallen Investitionen an anderen Standorten – eine KPI, die sofort verstanden wird, weil sie direkt in Geld messbar ist.

Benjamin Nakustin berichtet, dass Thyssenkrupp die Frage nach der Wirtschaftlichkeit anfangs naiv mit einem 50-seitigen White Paper beantwortet hat, das detailliert darstellte, was wie viel bringt. Diese Papiere landeten in Schubladen. Die Erkenntnis: Wenn diese Frage gestellt wird, wird sie nicht gestellt, weil man die Antwort hören will, sondern weil man das Thema grundsätzlich infrage stellen möchte. Jemand, der Wissensmanagement verstanden und verinnerlicht hat, stellt die Frage gar nicht.

Seine heutige Antwort auf die Frage ist provokant: Zähle die Anzahl der Herzinfarkte und Burnouts in deinem Bereich. Das ist eine Kennzahl dafür, wie gut du mit dem Wissen deiner Mannschaft umgehst. In Bereichen, wo man der Welle immer hinterherrennt, wo es Wissensverlust und ausscheidende Leute gibt, steigt die Anzahl der Herzinfarkte und Burnouts tatsächlich. Dies ist zwar von vielen Faktoren beeinflusst und zeitlich verzögert, aber drastisch. Die Auseinandersetzung mit diesem drastischen Beispiel führt zu anderen Gedankengängen bei Führungskräften.

Simon Dückert ergänzt, dass die Frage nach der Messbarkeit ein Klassiker ist, der bei Wissensmanagement seit 2000 und früher diskutiert wird. Interessanterweise wird sie bei anderen selbstverständlichen Funktionen oft nicht gestellt. Er unterscheidet zwischen Messen (Zuordnung von Zahlen zu Phänomenen) und Monetarisierung (dass die Zahlen Euros sein müssen). Ein erstes Projekt bei Siemens 2000 entwickelte ein Reifegradmodell, weil direkte Geldbeträge schwierig zuzuordnen sind. Reifegradmodelle können etwas objektivieren, sind aber aufwendig.

Zwei weitere Ansätze schlägt er vor: Vernetzung messen – besonders wenn man abteilungsübergreifende Arbeit fördert, kann man prüfen, ob die Vernetzung zunimmt. Die begründete Vermutung ist, dass die meisten Unternehmen noch nicht so gut vernetzt sind, wie sie sein müssten. Alignment messen – also ob es gelingt, übergreifend abgestimmt zu arbeiten, beispielsweise auf zwei statt auf fünf verschiedene Weisen.

Die zentrale Herausforderung bleibt die zeitliche Erstreckung – bis Metriken anschlagen, vergeht oft viel Zeit. Return on Investment zu prognostizieren, bevor man etwas investiert hat, ist quasi unmöglich und eher ein Ausdruck von Misstrauen ins Thema.

Benjamin Nakustin betont abschließend, dass es fürs Selbstverständnis des Wissensmanagements sinnvoll ist, sich selbst zu überprüfen – beispielsweise ob es gelungen ist, Einarbeitungszeiten zu reduzieren. Solche klaren Kennzahlen sind hilfreich. Aber sie machen nicht den Unterschied, ob eine Organisation sich für oder gegen Wissensmanagement entscheidet. Und wenn Wissensmanagement richtig in verschiedene Prozesse integriert ist, wird es schwieriger zu messen, weil es so integriert in ohnehin stattfindende Abläufe ist, dass man den isolierten Anteil gar nicht mehr erkennen kann.

Integration in Geschäftsprozesse und Führungsaufgaben

Die Integration von Wissensmanagement in bestehende Geschäftsprozesse und die Verankerung als Führungsaufgabe werden als entscheidend für nachhaltigen Erfolg identifiziert. Die Verschiebung von isolierten Wissensmanagement-Initiativen zu integrierten Ansätzen ist ein Reifungszeichen.

Benjamin Nakustin beschreibt die aktuelle Ausrichtung bei Thyssenkrupp Steel: Man ist von reiner Technikorientierung weggekommen und mehr beim Thema, Führung so zu gestalten, dass sie wissensorientiert ist. Führungskräfte haben ein wahnsinniges Spektrum an Handlungsfeldern, wo sie aktiv werden können: Beeinflussung des Teams, teamübergreifender Einfluss auf Kultur, auf Prozesse, auf das Lernen, auf die eingesetzten Werkzeuge, auf die lokal gefahrene Strategie. All diese Handlungsfelder aus der Wissensperspektive zu betrachten, ist das, was in den letzten Jahren als wirksam beobachtet wird.

Die Integration in Standardabläufe ist ein wichtiger Stichpunkt. In Meetings einfach mitdokumentieren, das Wissen zum Fließen bringen, zusehen, dass die richtigen Leute zusammenkommen und sich regelmäßig austauschen, dass Vertretungen gewährleistet sind – sobald Vertretungen gut im Griff sind, gibt es kein Wissenstransferproblem mehr. Dann kann jemand in Elternzeit gehen, ohne dass es Katastrophen verursacht.

Ein konkretes Beispiel ist die Dokumentation von Entscheidungen. Nicht nur die Entscheidung selbst festhalten, sondern auch dokumentieren, warum es dazu gekommen ist. Sonst kann man sich in drei Monaten nicht mehr daran erinnern, warum eine Entscheidung getroffen wurde. Dafür braucht man nur eine Excel-Tabelle auf dem SharePoint, kein Geld, keine großartige Zeitinvestition – einfach im Meeting selbst dafür sorgen, dass dies dokumentiert wird. Die Rolle kann rotieren im Team, sodass nicht alles auf zwei Schultern liegt.

Die praktische Anwendung solcher Prinzipien sorgt dafür, dass alle in der Mannschaft besser mit dem Thema Wissen umgehen. Es geht um ganz einfache Mechanismen, die identifiziert und etabliert werden müssen.

Bei Thyssenkrupp startet man mit Führungskräften bei einem relativ pragmatischen Thema wie Qualifikationsmanagement. Man bringt Führungskräfte mehr in die Rolle, die Qualifizierungen ihrer Mannschaft vernünftig zu managen und zu planen. Man versucht, sie in Richtung Lerncoaches zu entwickeln. Viele Führungskräfte haben gemerkt, dass Wissensthemen wichtig für ihre Mannschaften sind, und werden in den Feldern beraten, wo sie unmittelbar Einfluss nehmen können: Prozessgestaltung im Team unter Berücksichtigung von Wissen, Einfluss auf die Teamkultur, Sicherstellung des richtigen Lernens, Anwendung des in Team und Systemen steckenden Wissens.

Simon Dückert weist darauf hin, dass man 2000 bereits wusste, dass Wissensmanagement überall verteilt sein sollte. Trotzdem wurden Parallelprozesse aufgesetzt, weil man nur so Budget bekam, wenn man im Organigramm als Parallelprozess auftauchte. Rückblickend ärgert man sich darüber, hatte aber damals keine Idee, wie es anders hätte funktionieren sollen. Eigentlich muss Wissensmanagement in die Geschäftsprozesse, und dann ist es schwer isoliert messbar – aber das ist ein Zeichen von Reife, nicht von Schwäche.

Kulturelle Aspekte: Transparenz und Offenheit

Kulturelle Veränderungen, insbesondere in Richtung Transparenz und Offenheit, werden als zentrale Erfolgsfaktoren für Wissensmanagement identifiziert. Gleichzeitig zeigt sich, dass Kultur die trägste Variable ist und sich nicht einfach verordnen lässt.

Simon Dückert bezeichnet Open by Default als den größten Hebel aus seiner Sicht. Studien zeigen, dass die meisten Nutzer Voreinstellungen von Apps beibehalten. Das Wirkungsvollste bei Siemens war, bestimmte Systeme so zu gestalten, dass sie erstmal einfach offen sind. Dies ist auch der schnellste Test für die Kultur der Zusammenarbeit. Bei Wissensmanagement wird viel von Kultur gesprochen, aber Kultur ist die trägste Variable – warum sollte man damit anfangen?

Wenn man aber feststellen will, wie es um die Kultur bestellt ist, ist nichts leichter, als ein System anzubieten, das offen ist. Dann hat man sehr schnell den Dialog darüber: Ja, da will ich es aber nicht reinstellen. Warum nicht? Es ist schwer zu bedienen, man kriegt keine Bilder rein, es ist hässlich. Wenn das alles nicht gegeben ist: Ja, aber dann kann es ja jeder sehen. Natürlich gibt es dann viele, die doch ein vernageltes Silo wählen.

Langfristig, über 10-15 Jahre, ist die Maßnahme mit dem durchgreifendsten Effekt zu sagen: Hier ist möglichst viel von den Ablagen offen. Denn Recherchetools, Suchmaschinen und auch Chatbots haben es natürlich leichter, je offener die Systeme sind. Je vernagelter die Systeme, desto teurer und unmöglicher die Implementierung; je offener, desto einfacher. Der einfachste Rat mit dem größten Effekt ist: Da ist jetzt möglichst viel plötzlich offen.

Lothar Meyer beschreibt, dass Social Collaboration bei Bosch von der Kultur her einen sehr großen Einfluss hatte. Die Plattform ermöglichte Transparenz: Man konnte plötzlich eine Community gründen, ein Forum aufmachen und sagen: Hier bin ich, wer hat die gleichen Probleme wie ich, lasst uns darüber reden. Das war schon ein großer Schritt. Es war plötzlich nicht mehr eine Nische, sondern Alltag. Viele Leute machten mit, weil es von oben runtergedrückt wurde.

Die Transparenz bezog sich aber anfangs eher auf die Sichtbarkeit von Expertise und die Möglichkeit der Vernetzung, nicht automatisch auf radikale Offenheit aller Inhalte. Die ursprüngliche Vision von Enterprise 2.0 mit sehr radikaler Transparenz stellte sich nicht automatisch ein.

Bei Thyssenkrupp entwickelte sich die Kultur der Offenheit eher von unten nach oben. Es etablierte sich in Teams, aber auch über Teamgrenzen hinweg in größeren Communities. Dies geschah nicht auf Befehl von oben, sondern organisch. Transparenz auf Unternehmensebene war zunächst nicht der Fokus; es war mehr der teaminterne Einsatz der Werkzeuge, der sich dann ausbreitete.

Ein kultureller Aspekt, der oft unterschätzt wird, ist die Bereitschaft, nicht nur Erfolge, sondern auch Probleme und offene Fragen zu teilen. Die Möglichkeit, ein Forum aufzumachen und zu fragen, wer die gleichen Probleme hat, setzt voraus, dass es kulturell akzeptiert ist, Probleme offen anzusprechen.

Die Erfahrung zeigt, dass Kultur sich nicht verordnen lässt, aber durch die richtigen Rahmenbedingungen – offene Systeme, sichere Räume für Austausch, Vorbilder in der Führung – gefördert werden kann. Der Wandel braucht Zeit, aber wenn er stattfindet, ist er nachhaltiger als rein technologiegetriebene Initiativen.

Fazit und Ausblick

Die Session macht deutlich, dass erfolgreiches Wissensmanagement ein Marathon ist, kein Sprint. Über Jahrzehnte hinweg haben sich die Schwerpunkte von technologiezentrierten Ansätzen über Social Collaboration hin zu kulturellen und führungsorientierten Strategien verschoben. Die wichtigste Erkenntnis ist vielleicht, dass es keine endgültigen Lösungen gibt – Wissensmanagement muss sich kontinuierlich anpassen.

Bottom-up-Initiativen, insbesondere Communities of Practice, erweisen sich als nachhaltiger als top-down-Programme, brauchen aber Unterstützung bei Infrastrukturwechseln und Migrationen. Die intrinsische Motivation – ich habe was davon, das bringt mich weiter – ist der entscheidende Erfolgsfaktor für langlebige Communities, von denen einige seit 30 Jahren aktiv sind.

Die Frage nach dem messbaren Nutzen von Wissensmanagement bleibt herausfordernd. Wichtiger als ROI-Berechnungen sind oft qualitative Indikatoren: verbesserte Vernetzung, mehr Alignment, reduzierte Einarbeitungszeiten, weniger Stress und Überlastung. Wenn Wissensmanagement richtig in Geschäftsprozesse integriert ist, wird es schwieriger, isoliert zu messen – was aber ein Zeichen von Reife ist, nicht von Schwäche.

Die Integration von Wissensmanagement in Führungsaufgaben und Geschäftsprozesse ist entscheidend für nachhaltigen Erfolg. Führungskräfte sollten befähigt werden, ihre Teams aus Wissensperspektive zu führen: Wer lernt was? Wie wird Wissen geteilt? Sind Vertretungen gesichert? Werden Entscheidungen mit ihren Begründungen dokumentiert? Diese Integration erfordert keine großen Investitionen, sondern vor allem ein Umdenken.

Open by Default – also Systeme, die standardmäßig offen sind – wird als einer der wirksamsten Hebel identifiziert. Dies ist zugleich der schnellste Test für die Kultur der Zusammenarbeit. Die Entwicklung einer Kultur der Transparenz und des Wissensteilens braucht Zeit, kann aber durch die richtigen Rahmenbedingungen gefördert werden.

Offene Fragen und Herausforderungen:

  • Wie unterstützt man Communities bei der bevorstehenden nächsten Plattformmigration, insbesondere bei der Konservierung von Social-Collaboration-Content (Wikis, Einträge) und nicht nur Dokumenten?
  • Wie viel historischer Content ist nach 30 Jahren noch relevant? Wie gestaltet man sinnvolle Aufräum- und Archivierungsprozesse?
  • Wie vermeidet man die dunkle Seite der virtuellen Zusammenarbeit – die Verdichtung von Terminen ohne Wegezeiten, die zu Überlastung führt?

Handlungsempfehlungen:

  • Fokussiere auf Bottom-up-Initiativen und schaffe Rahmenbedingungen für deren Erfolg, statt Wissensmanagement nur top-down zu verordnen
  • Investiere in die Befähigung von Führungskräften, ihre Teams aus Wissensperspektive zu führen und sie zu Lerncoaches zu entwickeln
  • Gestalte Systeme nach dem Prinzip Open by Default, um Transparenz und Auffindbarkeit zu fördern
  • Integriere einfache Wissenspraktiken in bestehende Abläufe: Entscheidungen mit Begründungen dokumentieren, Vertretungen sicherstellen, regelmäßigen Austausch ermöglichen
  • Unterstütze Communities aktiv bei Systemmigrationen mit Enablement, technischer Hilfe und klarer Kommunikation
  • Stelle nicht primär die ROI-Frage, sondern fokussiere auf qualitative Indikatoren wie Vernetzung, Alignment und Wohlbefinden der Mitarbeitenden
  • Akzeptiere, dass Wissensmanagement ein kontinuierlicher Prozess ist – wer aufhört, besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein
  • Entwickle eine offene Fehlerkultur, in der Probleme genauso geteilt werden können wie Erfolge
  • Nutze drastische, aber ehrliche Kennzahlen (wie Burnout-Raten) für Gespräche mit skeptischen Führungskräften statt aufwendiger ROI-Berechnungen
  • Bleibe flexibel und lernbereit – die nächste Welle (aktuell KI) kommt bestimmt, und Wissensmanagement muss sich wieder anpassen